Sprache und Kultur (1)

Perspektiven auf Sprache – zum Zusammenhang von Sprache und Kultur (1)

„Language is not only more than the sum of its parts (words, sounds ans sentences) – it is by itself insufficient for full communication and understanding without knowledge of an enveloping culture“ (Everett 2009: 202).

„According to Sapir, our language affects how we perceive things. In his view, what we see and hear in our day-to-day existence results from the way that we talk about the world“ (Everett 2009: 218).


Was soll hier unter „Kultur“ verstanden werden?

Definitionen von  „Kultur“ versuchen ein komplexes lebensweltliches Phänomen zu erfassen, etwas, dass es uns Menschen ermöglicht, unsere Lebenswelt zu verstehen und in ihr und mit anderen Menschen gemeinsam zu handeln. Ich verwende hier den Kulturbegriff der kulturwissenschaftlichen bzw. diskursiven Landeskunde nach Claus Altmayer, weil dieser Kulturbegriff meiner Meinung nach den Zusammenhang von Sprache und Kultur am besten verdeutlicht.

Unter Berufung auf den amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1995) versteht Claus Altmayer Kultur als „jenes ’selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‘ … , in das Menschen als Mitglieder sozialer Gruppen ‚verstrickt‘ sind … Mit ‚Kultur‘ wären demnach vor allem diejenigen Bestände eines ‚lebensweltlichen‘, d.h. von uns als ’normal‘, ’selbstverständlich‘ und allgemein bekannt angenommenen Wissens gemeint, das wir in unseren alltäglichen Lebensvollzügen immer schon verwenden, auf das wir aber in aller Regel erst dann reflektieren, wenn es – aus welchem Grund auch immer – in Frage gestellt ist. Kultur, so könnte man mit der Forschungsrichtung der ‚cognitive anthropology‘ auch sagen, ist geteiltes Wissen (’shared knowledge‘)“ (Altmayer 2002, S. 8).

Im Konzept der Diskursiven Landeskunde erweitert Altmayer seinen Kulturbegriff in der Weise, dass sich dieses „shared knowledge“, also „das, was es uns ermöglicht, überhaupt die Wirklichkeit, bestimmte Situationen und Handlungen, auch unser eigenes Tun und Erleben als irgendwie sinnvoll wahrzunehmen“ (Altmayer und andere 2017, S. 6), in Diskursen herausbildet.

Diskurs wird hier als soziale Praxis gesehen, durch Diskurse – d.h. durch Kommunikation über bestimmte Gegenstände zu bestimmten Bedingungen mit bestimmten Kommunikationspartnern – werden soziale Sinnzusammenhänge produziert. „Diskurse … ‚lassen sich als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn- Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren‘ “ (Altmayer und andere 2017, S. 8).

In Diskursen bilden sich „mehr oder weniger stabile Wissensordnungen heraus, die uns mit Vordeutungen versehen und die überhaupt erst ermöglichen, dass wir im Diskurs sozial geteilte, d. h. gemeinsame Bedeutungszuschreibungen vornehmen können. Wir verweisen in Diskursen, d. h. in Gesprächen, in Texten, Medien, in jeder Art der Sprachverwendung auf diese als gemeinsam und allgemein bekannt unterstellte Wissensbasis, manchmal explizit, meistens aber implizit und ohne dies überhaupt zu reflektieren oder zu erwähnen… Die einzelnen Elemente oder Bausteine solcher diskursiven Wissensordnungen nennen wir ‚kulturelle Deutungsmuster‘ oder auch einfach ‚kulturelle Muster‘. Dieser Begriff bezeichnet also die einzelnen Bestandteile eben jenes gemeinsamen oder als gemeinsam unterstellten Wissens, das wir bei jeder sprachlich-diskursiven Handlung für die Deutung der betreffenden Situation anwenden und als allgemein und selbstverständlich bekannt voraussetzen, das uns mit bereits vorgegebenen Deutungsangeboten für bestimmte Situationen und auf dieser Basis auch mit Handlungsorientierung versieht“ (Altmayer und andere 2017, S. 8 -9).

Welche Zugänge zu Kultur gibt es über Sprache?

Schon in Verbindung mit der Interkulturellen Landeskunde nannte Krumm den Zugang über die Sprache einen der klassischen Zugänge zur Landeskunde (vgl. Krumm 1998, S. 528).  Die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Kultur beantwortet sich mit dem oben genannten Kulturbegriff jedoch mehr oder weniger von selbst: Wenn wir Kultur als geteiltes Wissen ansehen, das in Diskursen, also durch Sprache entsteht, ist Sprache Grundlage und Quelle von Kultur.

Hier soll aber interessieren, wie beim Lehren und Lernen von Deutsch-als-Fremdsprache über Sprache Zugänge zu den kulturellen Mustern gefunden werden können, die die Bausteine der diskursiven Wissensordnungen bilden, die wir oben mir Altmayer „Kultur“ genannt haben. In diesem Zusammenhang sind die folgenden drei Zugänge zu nennen:

  1. Zugang über das Hinterfragen von Bedeutungen
  2. Zugang über Grammatik
  3. Zugang über die sprachliche Realisierung von kommunikativen Absichten (Kommunikationsstile)

Diese drei Zugänge sollen im folgenden näher dargestellt werden. In diesem ersten Teil  des Themas „Sprache und Kultur“ liegt der Schwerpunkt auf dem Hinterfragen von Bedeutungen. Die beiden anderen Zugänge sollen in zwei weiteren Teilen thematisiert werden.

1. Hinterfragen von Bedeutung

Schon im Interkulturellen Ansatz wurde von Müller (1994) die Rolle von kulturspezifischen Bedeutungen thematisiert, wobei sich die Interkulturelle Landeskunde auf Kulturbegriffe wie den von Alexander Thomas (1993) stützt, der Kultur als ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem sieht und damit unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen Kulturstandards unterscheidet.

Grundlage sind die von der Semantik untersuchten Bedeutungsebenen der Wörter, die neben der denotativen auch eine konnotative, eine intentionale und eben auch eine kulturspezifische Bedeutungsebene haben. Bedeutung kann dabei als Propositionale Repräsentation oder als Prototyp (Schema-Repräsentation) im Gedächtnis gespeichert sein. Verschiedene Prototypen werden als Maßstab des Erkennens und Bewertens von Dingen herangezogen. Auch die Funktion eines Gegenstandes spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Klassifizierung (vgl. Müller 1994 S.16).

Bei der Propositionale Repräsentation von Bedeutung wird der Bewusstseinsinhalt eines Wortes oder Ausdrucks in Form von Assoziationsketten (Koordinationen, Kollokationen, Subordinationen, Synonyme, Antonyme) gespeichert.  Wörter bringen dabei (kultur)spezifische Verbindungen zum Ausdruck. „Diese Verbindungen entstehen natürlich durch die Erfahrungen, die die Personen in einer Kultur mit einem Begriff machen. … Assoziationen weisen also auf kulturspezifische Gewohnheiten hin, sowohl im Verhalten als auch im Denken. … Wortassoziationen sind also nicht nur unverbindliche Unterschiede, die man in den Köpfen findet; sie gründen vielmehr auf unterschiedliche gesellschaftliche Erfahrungen, Gewohnheiten und – besonders wichtig – Bewertungen. … Sie spiegeln historische Prozesse wider und enthalten landeskundliche Informationen, die man berücksichtigen muß, wenn man eine fremde Sprache erlernt“ (Müller 1994; S. 15).

Am interkulturellen Ansatz, der auf diese Weise im Sinne einer konfrontativen Semantik kulturspezifische Bedeutungen von Wörtern vergleicht, wird unter anderem kritisiert, dass er Gefahr läuft, wichtige Aspekte des kulturellen Wissens wie spezifische Vorstellungen und Grundwerte zu vernachlässigen. „Ohne Zugang zu den soziokulturellen Hintergründen, den kognitiv-konzeptuellen Grundlagen des (fremd)kulturellen Denkens und Handelns, die die Zusammenhänge klären und das Verständnis anderer, ähnlicher Situationen ermöglichen, bleibt das Verhalten der „Anderen“ unnachvollziehbar und fremd“ (Mueller-Liu 2009: 118).

Der Ansatz der Diskursiven Landeskunde ermöglicht es meiner Meinung nach, solche kognitiv-konzeptuellen Grundlagen des (fremd)kulturellen Denkens und Handelns mit in den Blick zu nehmen:  Die kulturellen Bedeutungen von Wörtern, Ausdrücken oder Handlungen werden, wenn wir von dem oben zitierten Kulturbegriff der Diskursiven Landeskunde ausgehen,  im Diskurs ausgehandelt und ermöglichen so eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einer sozialen Gruppe herzustellen (vgl. Altmayer und andere 2017, S. 8.). Um die kulturellen Muster als Bausteine einer solchen Wissensordnung in Texten als Teil von Diskursen zu finden, hat Claus Altmayer 2004 eine Analysemethode vorgeschlagen, die hier zusammengefasst ist: Kulturwissenschaftliche_Textanalyse.

Beispiel „Heimat“

Am Beispiel des kulturellen Musters „Heimat“ soll versucht werden zu zeigen, wie Bedeutung im Diskurs ausgehandelt wird. Ausgangspunkt ist das Lied „B 96“ der Gruppe Silbermond:

 

Die Pop-Rock-Band Silbermond (Autoreninstanz) stammt aus Bautzen in Sachsen und ist 2004 nach Berlin gezogen. Das Lied „B 96“ wurde das erste Mal Ende November 2015 auf der CD „Leichtes Gepäck“ veröffentlicht. Auf dem Live-Doppelalbum des Live-Konzerts „Leichtes Gepäck“ in Dresden (26.08.2017) ist neben „B 96“  auch der Song „Meine Heimat“ mit dem Rapper Moses Pelham zu finden (vgl. die offizielle Band-Homepage). Ein Live-Video dieses Songs ist hier auf YouTube.

Im folgenden Text von „B 96“ sind die kulturellen Schlüsselwörter farbig markiert. Diese Schlüsselwörter machen den Text auf die unter seiner Oberfläche liegenden kulturellen Muster hin durchlässig (vgl. Altmayer 2004, S. 232). Sie bilden gewissermaßen Assoziationsketten, die die Bedeutung des kulturellen Musters „Heimat“ in diesem Text repräsentieren. Diese Assoziationen werden im offiziellen Musikvideo auch durch die Filmhandlung und die Bilder unterstützt.

B 96 SONGTEXT

Über blassgelben Feldern – schüchtern und scheu,
liegt ein taufrischer Morgen – neblig und neu.
Und die frühesten Vögel,
hauen den Morgenappell,
an das rostige Hoftor,
bis es irgendwann umfällt.
Und es dauert nicht lang,
bis die Gedanken verträumt sind,
hier an der B 96.Und die Welt steht still, hier im Hinterwald,
und das Herz schlägt ruhig und alt.
Und die Hoffnung hängt am Gartenzaun,
und kaum ein Mensch kommt je vorbei.
Im Hinterwald,
wo mein Zuhause ist.
Schön wieder hier zu sein.

Versteckt unter Heu,

liegen Sachen von dir.
Aber auch ne 3/4 Kindheit – verbeult und ramponiert.
Und seit 20 Jahren,
brennt ein Licht überm Stammtisch,
und seit 10.000 Jahren
zerreißen Menschen sich Mäuler,
über Alles und Jeden,
also alles beim Alten,
hier an der B 96.

Und die Welt steht still, hier im Hinterwald,
und das Herz schlägt ruhig und alt.
Und die Hoffnung hängt am Gartenzaun,
und kaum ein Mensch kommt je vorbei.
Im Hinterwald,
wo mein Zuhause ist.
Erinnerungen holen mich ein.
Schön wieder hier zu sein.Und die Welt,
steht still,
hier im Hinterwald.Und das Herz,
schlägt ruhig,
hier im Hinterwald.Und die Welt,
steht still,
hier im Hinterwald.Und das Herz,
schlägt ruhig,
hier im Hinterwald.
Diese Schlüsselwörter lassen sich in drei Assoziationsketten gliedern, bei denen sie sich
teilweise auch überlappen:
  • (1) B 96 – Hinterwald – blassgelbe Felder
  • (2) Hinterwald  –  blassgelbe Felder – rostiges Hoftor – die Welt steht still – das Herz schlägt ruhig und alt – kaum ein Mensch kommt je vorbei – seit zwanzig Jahren brennt ein Licht überm Stammtisch – seit zehntausend Jahren zerreißen Menschen sich Mäuler – also alles beim Alten – Zuhause – schön wieder hier zu sein
  • (3) Erinnerungen – taufrischer Morgen – frühesten Vögel hauen den Morgenappell ans rostige Hoftor – die Hoffnung hängt am Gartenzaun – ’ne drei viertel Kindheit verbeult und ramponiert
Zum Verstehen einiger dieser Schlüsselwörter benötigt man Hintergrundwissen, andere Ausdrücke sind als Metaphern zu verstehen, die aufgelöst werden müssen:

B 96

Die Bundesstraße 96 (Abkürzung: B 96) führt von Zittau im östlichen Teil der Oberlausitz bis nach Sassnitz auf Rügen. Sie gilt als ostdeutsche Route 66. Für „Spiegel Online“ begaben sich  Raphael Thelen und Thomas Victor auf einen „einmonatigen Roadtrip über die Route 66 der DDR“, der hier nachzulesen ist. Der MDR widmete der Straße in der Reihe „Der Osten – entdecke wo du lebst“ einen Fernsehfilm mit dem Titel  „Die B96 – Legendäre Fernstraße„.

Die B 96 ist also eine besondere Fernstraße, die vor allem durch ländliche Gebiete und Kleinstädte in Ostdeutschland führt und den Süden und die Mitte Ostdeutschlands mit der Ostsee verbindet.

Eine besondere Straße ist die B 96 auch für die Sängerin der Gruppe Silbermond, Stefanie Kloß, die in einem Dorf an der B 96 aufgewachsen ist. In einem Interview mit dem MDR sagt sie: „Jedes Mal, wenn ich mich in Berlin ins Auto setze und dann auf der B96 in Richtung Bautzen fahre, überkommt mich diese besondere Melancholie. Der Weg dorthin ist gepflastert mit Erinnerungen – guten und schmerzhaften“ (Silbermond: „Jeder hat seine B 96“).

Eng verbunden mit „B 96“ ist das Schlüsselwort „Hinterwald“.

 Hinterwald

Gemeint sind nicht die gleichnamigen Orte in Rheinland-Pfalz oder in Österreich. Es handelt sich hier vielmehr um eine Wortneuschöpfung, die vermutlich von dem bekannten Wort „Hinterwäldner“ abgeleitet ist. Wer hinter dem Wald lebt, mit dem verbinden sich unter anderem folgende Assoziationen: dörflich · kleinstädtisch · ländlich · kulturlos · ungebildet ·  hinter dem Mond leben · nicht wissen, was angesagt ist · nicht wissen, wie die Dinge (heutzutage) laufen (vgl. https://www.openthesaurus.de/synonyme/Hinterw%C3%A4ldler).

Im Lied sind die mit „Hinterwald“ verbundenen Assoziationen jedoch nicht so negativ konnotiert. Zwar sind nicht alle Erinnerungen nur schön, es gab nur eine „drei viertel Kindheit, keine ganze, und die Hoffnung, herauszukommen in die große Welt, ist da. Aber dass die Welt hier stillsteht und alles beim Alten ist, kann auch beruhigend sein in einer Zeit, in der ständige Veränderungen, Hektik und Stress immer normaler zu werden scheinen und  nicht alle Menschen damit klarkommen. Das Herz „schlägt ruhig und alt“ – nicht betriebsam und hektisch. Alter kann auch für Weisheit stehen und für Reife und Dinge, die gut sind, müssen nicht verändert werden. Der „Hinterwald“ ist das Zuhause, auch deshalb ist es schön, wieder hier zu sein.

Heimat (1)

Das Lied ist eine Hommage an die Provinz. Heimat ist hier der Ort, an dem man aufgewachsen ist, den man kennt, wo man sich trotz mancher Verletzungen wohl fühlt und an den man gern zurückkehrt. So ähnlich sehen das auch Fans von Silbermond, die auf deren Facebookseite zum Beispiel schrieben:
„Ostern waren wir nach 20 Jahren wieder mal da, aber es ist wohl das Ende der B 96 (Hoyerswerda). Nichts ist, wie es einmal war … schade … Aber der für mich schönste Teil der B 96 ist … in Dresden von der Autobahn runter und durch Ottendorf-Okrilla fahren … wunderschön … so wie früher und alles beim Alten. Danke für diesen Song. …“ (Silvia Stenge: Im Hinterwald Die Bautzener Band Silbermond animiert mit dem Song „B 96“ ihre Fans zu Fotos, Texten und Tränen. Sächsische Zeit online 30.07.2016). 
Heimat kann aber auch anderes bedeuten, wie ein kurzer Blick in den deutschsprachigen Diskurs zeigt:

Heimat (2)

In seiner Festrede „Dank an Sachsen. Nachdenken über Heimat“ zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2012 vor dem Sächsischen Landtag benennt der Schriftsteller Uwe Tellkamp Heimat als den konkreten Raum, in dem der abstrakte Raum zur Wirklichkeit wird, als Erinnerung, Gedächtnis, Geschichte. Er stellt diesem konkreten Raum  den abstrakten Raum der Globalisierung und der durch Medien entfesselten virtuellen zweiten Wirklichkeit  gegenüber und schreibt:
„Zweite Wirklichkeit frißt sich in die erste, überlagert die erste bereits, Beispiel ist die Macht des Fernsehens. In der zweiten Wirklichkeit aber, die eine der Vorstellungen ist, gibt es keine Grenzen, die Dämonen sind entfesselt und toben frei durch die Säle der Luftschlösser. Diese Dämonen sind nur aus dem konkreten Raum heraus zügelbar. Der Begriff Heimat ist hierzulande ein belasteter, gleichwohl bezeichnet er etwas, ohne das niemand auskommt: Rückbindung an das Konkrete, an Herkunft, ohne die es keine Zukunft gibt, an eine bestimmte Art und Weise, sich zum Leben und zueinander zu verhalten. Die Kraft für Veränderungen kommt aus dem Konkreten, aus der Heimat – und wahrscheinlich nur von dort. … Heimat hat ihre Tücken. Nicht immer ist sie Heilmittel, manchmal ist sie Ursache der Probleme. Manchmal ist sie dort, wo die Intrigen mich betreffen. Dennoch ist sie unverzichtbar – wie der Hafen für das Schiff. Heimat im guten Sinn vermittelt Maßstäbe, Sinn für Tradition, ohne die wir im Haltlosen schweben. Unter Heimat verstehe ich nicht Tümelei und Volksmusik à la Oberhofer Bauernmarkt oder Blasmusi’ mit Zither auf Bayern-TV. Das ist die Heimatlüge. Zur Heimatwahrheit gehören die Würde des Echten, der Nähe und der Begrenzung. Die Vorzüge der Ferne werden erst dort sinnfällig, wo es Nähe gibt. Die angenehmen Seiten der Nähe lernt man oft erst in der Ferne zu schätzen. Es geht also um Balance. Globalisierung ist wichtig und wahrscheinlich richtig. In diesem Prozeß aber drohen menschliches Maß und Werte wie Rücksicht und Vernunft vergessen zu werden. Heute müssen wir die Langsamkeit, die natürlichen Zyklen von Reifung gegen ein Höher, Schneller, Weiter verteidigen, das sich verselbständigt, ein faustisches Prinzip Wachstum, das eines offenbar nicht mehr weiß: wofür. Es ist Zeit für eine Besinnung“ (Tellkamp 2012).
Heimat wird hier als notwendige Balance gesehen, als Ausgleich zu einer globalisierten Welt, in der menschliches Maß und menschliche Werte ohne diesen Ausgleich verloren zu gehen drohen .

Heimat (3)

Wie aktuell der Diskurs zu „Heimat“ ist, zeigt auch ein Gespräch zu der Frage Wie wichtig ist uns Heimat?“,  das der Deutschlandfunk am 20.12.2017 in der Stadtbibliothek Pirna mit folgenden Gästen führte und live sendete:
  • Dr. Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden
  • Karin Berndt, Oberbürgermeisterin von Seifhennersdorf in Sachsen
  • Prof. Dr. Werner Patzelt, Professor für Politische Systeme und Systemvergleich, TU Dresden
  • Friedemann Brause, Referent bei der Aktion Zivilcourage, Pirna
  • Bastian Brandau, Landeskorrespondent des Deutschlandfunks, Dresden
  • René Misterek, Leiter des Stadtmuseums Pirna, Vorstandsmitglied des sächsischen Heimatschutzvereins

Begründet wurde die Wichtigkeit, „Heimat“ zu hinterfragen damit, dass nicht nur in Deutschland Nationalisten und Populisten versuchen, diesen Begriff zu instrumentalisieren. Um so wichtiger sei es zu klären, was Heimat für den Einzelnen bedeutet.  Hier kann man das Gespräch anhören.

Heimat (4)

Auch in den Dresdner Reden 2018, die das Schauspielhaus Dresden in Kooperation mit der Sächsischen Zeitung ausrichtet, spielt das Thema „Heimat“ eine Rolle:

„Die dritte Rednerin, am 18.02.2018, ist die deutsche TV-Journalistin und Fernsehmoderatorin Dunja Hayali. In ihrer Rede „Heimat kriegt uns alle“ hinterfragt sie, warum die Zeichen auf Rückzug und Absicherung stehen. …  Die Bewahrung der „eigenen Kultur“ gewinnt an Bedeutung. Das „Wir“ und das „Ihr“ sorgt für Spannungen zwischen befreundeten Nationen, und innerhalb der eigenen Landesgrenzen tun sich Gräben auf zwischen Traditionalist*innen und Modernisierer*innen. Im Kampf um die Deutungshoheit, wem die Heimat gehört, nimmt die Diskussion bizarre Züge an: Ein bisschen Blut. Ein bisschen Boden. Und ein bisschen Bullshit. Heimat kriegt uns alle. Aber wie?“ (http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/dresdner_reden_2018/).

Heimat (5)

Am 2. Oktober 2017 setze die „Grüne Jugend“ diesen Tweet ab:

grüne_jugend_heimat

Interessant sind auch die Kommentare dazu auf Twitter.

Heimat als problematischer Begriff, der von Nationalisten und rechten Parteien instrumentalisiert werden kann – das wird auch im folgenden Text diskutiert.

Heimat (6)

Johannes Schneider diskutierte am 9. Oktober 2017 in der Zeit Online unter der Überschrift „Hilfe, es heimatet sehr“ den Heimatbegriff  und meint, die Heimat der Zukunft sei Patchwork statt Privileg:

„Ein Kritikpunkt in der bisherigen Debatte war, dass Heimat keinen Plural kennt, dass der Begriff am Ende doch immer eine bestimmte geografische Einheit meint sowie jene Teile der Bevölkerung, die dort verwurzelt sind. Dieser Plural – Heimaten – ist aber sprachlich leicht zu bilden, und er ist die Zukunft des Begriffs: Schon jetzt betrifft er die Lebenswirklichkeit in einer beweglicher werdenden Gesellschaft, in der es vor Wahl- und neuen Heimaten nur so wimmelt. Die Heimat der Zukunft, um hier final alle konservativen Kopfnicker zu vergraulen, ist Patchwork statt Privileg. Sie ist anschlussfähig für alle, die nach ihr suchen und die, anders als die gesegneten Rationalist*innen, für ihr psychisches Wohl darauf angewiesen sind, irgendwo oder irgendwie heimisch zu werden. Vielleicht findet sich dafür ja bald ein Begriff, der nicht so kontrovers ist wie Heimat und nicht so unverortet wie Solidarität. Bis dahin ist ein solidarisches Heimatgefühl nicht die schlechteste Basis für eine demokratische Zukunft.“

Am Ende seines Textes zitiert er den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der in seiner Einheitsrede sagte: „Doch die Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ‚Wir gegen Die‘; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat.“

Heimat im Plural – Mensch kann sich an unterschiedlichen Orten heimisch fühlen, wo Menschen solidarisch miteinander handeln.

Heimat (7)

Friedhard Teuffel schreibt in einem Essay in „Der Tagesspiegel online“ am 10.10.2017 unter der Überschrift „Die neue Sehnsucht nach Heimat“  über die Wiederbelebung dieses Begriffs.

Er sieht als Grund dafür, dass über „Heimat“ aktuell verstärkt debattiert wird, ein Gefühl der Entwurzelung in einer mehr und mehr globalisierten Welt: “ Heimat kann stehen bleiben heißen. Stillstand. Unbeweglichkeit. Gerade das hat das Bedürfnis nach ihr wieder so groß werden lassen: dass um die Menschen herum so viel und wohl auch zu viel in Bewegung gekommen ist. … Gerade das Ungewohnte, das Ungewollte produziert Bedürfnisse nach Geborgenheit und Behaglichkeit, des So-sein-Dürfens, wie man sich selbst sieht.“

Heimat ist für ihn „Ort und Gefühl, und zwar vor allem Sehnsucht. … Es könnte auch jetzt darum gehen, die Kraft aus der Sehnsucht zu ziehen, den Weg als Ziel zu nehmen. Auch zurzeit wird so manches vermisst, Zusammengehörigkeit und Anerkennung, Aufgehoben-Sein. Am Bild der Verwurzelung kommt man dabei in seiner Natürlichkeit nur schwer vorbei.“

Damit „Heimat“ aber Leitbild werden kann, müsse der Begriff eine zweifache Drehung hinbekommen: Heimat dürfe nicht heißen, vom Heute ins Gestern zu schauen. Es müsse darum gehen, vom Heute ins Morgen zu schauen, Heimat müsse das Ziel werden.

„Das ist die eine Drehung. Zum anderen muss Heimat von einem ganz persönlichen Begriff auch zu einem gemeinschaftlichen werden. „Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ,Wir‘ Bedeutung bekommt.“ Sagt Steinmeier. Ob da alle mitmachen, ohne dass ihnen schwindelig wird? Hilfe, jetzt soll selbst Heimat nicht mehr das sein, was es war?

Rechtspopulisten sagen, was Heimat alles nicht sein darf. Es kommt jedoch darauf an, was sie werden kann. Nur den Rechtspopulisten nicht alle Begriffe überlassen zu wollen, die mit Bindung und Identität zu tun haben, reicht als Antrieb ohnehin nicht aus. Das wäre selbst Abwehrhaltung. In ihrer Selbstverständlichkeit muss Heimat nicht neu erfunden, aber neu bestimmt, erfüllt und erzählt werden, das geht nur mit Austausch und Verständigung“

Friedhard Teuffel sieht Heimat als eine Möglichkeit für Menschen, sich auch im Wandel selbst wiederzufinden, wenn sie als ein Ziel für die Zukunft gestaltet wird .

Hinterfragen von Bedeutung – Fazit

Die sieben Beispieltexte könnten noch durch viele weitere ergänzt werden. So gab es schon vom 4. bis 10. Oktober 2015 in der ARD eine „Themenwoche Heimat“ :

ARD_Heimat

Das Titelbild zur Themenwoche zeigt sehr schön, was auch in den Beispieltexten deutlich geworden ist: „Heimat“ als kulturelles Muster ist in seiner Bedeutung nicht eindeutig festgelegt, es gibt keinen einheitlichen Heimatbegriff, wie man ihn zum Beispiel in einem Wörterbuch findet.

Die Bedeutungen von Wörtern werden im Diskurs ausgehandelt und ermöglichen es so, eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einer sozialen Gruppe herzustellen. Dabei ist „soziale Gruppe“ nicht gleichzusetzen mit „nationaler Gruppe“ – es gibt keinen  „deutschen“ Heimatbegriff. Jede der drei Personen im Titelbild zur ARD-Themenwoche gehört einer anderen sozialen Gruppe an, obwohl alle drei Deutsche sind. Jede dieser drei Personen wird vermutlich unter „Heimat“ etwas anderes verstehen.

Am Beispiel der Texte, die sich mit dem Begriff „Heimat“ auseinandersetzen, konnte gezeigt werden, wie im Diskurs durch Kommunikation über diesen Begriff zu bestimmten Bedingungen mit bestimmten Kommunikationspartnern bzw. Lesern soziale Sinnzusammenhänge produziert werden. Damit ist am Beispiel des kulturellen Musters „Heimat“ ein kleiner Teil des geteilten Wissens sozialer Gruppen sichtbar geworden, das wir als Kultur dieser Gruppen bezeichnen können.

Fortsetzung folgt

Der zweite Zugang zu Kultur über Sprache (Zugang über Grammatik) ist in Sprache und Kultur (2) dargestellt.

Der dritte Zugang zu Kultur über Sprache über Kommunikationsstile wird in einem dritten Teil thematisiert.


Quellen Teil 1

Die Beispieltexte zum Diskurs über „Heimat“ sind im Text verlinkt.

Altmayer, Claus. (2002). Kulturelle Deutungsmuster in Texten. Prinzipien und Verfahren einer kulturwissenschaftlichen Textanalyse im Fach Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [Online], 6(3), 25 pp. Available: http://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/article/view/585 (23.07.2017)

Altmayer, Claus (2004): Kultur als Hypertext. Zur Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. Iudicium Verlag München.

Altmayer, Claus; Hamann, Eva;  Magosch, Christine; Mempel, Caterina;  Vondran, Björn;   Zabel, Rebecca : Einführung in „Mitreden“ – Online unter https://www.klett-sprachen.de/download/9744/675267_Einleitung.pdf am 23.07.2017.

Everett, Daniel (2009): Don’t sleep, there are snakes. Life and Language in the Amazonian Jungle. – Profile Books, London.

Everett, Daniel (2013): Language: The Cultural Tool.- Profile Books , London.

Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 4.Aufl. Frankfurt a.M. 1995.

Krumm, H.-J.: Landeskunde Deutschland, D-A-CH oder Europa? Über den Umgang mit Verschiedenheit im DaF-Unterricht. – In: Info DaF. Informationen Deutsch als Fremdsprache 25, 5 (1998), S. 523-544.

Müller, B.-D.: Wortschatzarbeit und Bedeutungsvermittlung. Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen / Langenscheidt Verlag 1994. – (Fernstudieneinheit 8).

Mueller-Liu, Patricia (2009): „Kultur, Sprache und Wirklichkeit – Grundlagen der Kulturkontrastivität“. – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 85 – 163.

Tellkamp, Uwe: Dank an Sachsen. Nachdenken über Heimat. Festrede des Schriftstellers Uwe Tellkamp zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2012 vor dem Sächsischen Landtag. – Online am 29.12.2017 unter https://www.landtag.sachsen.de/dokumente/Festrede_des_Schriftstellers_Uwe_Tellkamp_zum_Tag_der_Deutschen_Einheit.pdf

Thomas, Alexander: Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In: Alexander Thomas (Hg.), Kulturvergleichende Psychologie Eine Einführung, S. 377 – 424 . Göttingen:Hogrefe1993.

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