Sprache und Kultur (2)

Perspektiven auf Sprache – zum Zusammenhang von Sprache und Kultur (2)


Dieser Text ist die Fortsetzung des Textes „Perspektiven auf Sprache – zum Zusammenhang von Sprache und Kultur (1)„. Darin wurde zunächst beschrieben, was unter „Kultur“ verstanden werden soll. Anschließend wurden als Zugänge zu Kultur über Sprache genannt

  1. der Zugang über das Hinterfragen von Bedeutungen;
  2. der Zugang über Grammatik und
  3. der Zugang über die sprachliche Realisierung von kommunikativen Absichten (Kommunikationsstile).

Schließlich wurde der Zugang über das Hinterfragen von Bedeutungen am Beispiel der Bedeutung von „Heimat“ ausführlich vorgestellt.

In diesem zweiten Teil soll am Beispiel der Kulturkontrastiven Grammatik der zweite der drei Zugänge thematisiert werden.

2. Kulturkontrastive Grammatik

Im Jahr 2008 veröffentlichte Salifou Traoré sein Buch „Interkulturelle Grammatik. Konzeptionelle Überlegungen zu einer Grammatik aus eigener und fremder Perspektive im Deutschen als Fremdsprache“ (Traoré: 2008).

Traoré fasst „Kulturen als Deutungsgemeinschaften auf, in denen vor dem Hintergrund gemeinsamer Wissensbestände die Welt nahezu in der gleichen Art und Weise gedeutet wird. … Für unser Thema bedeutet dies, dass grammatische Strukturen kulturspezifische Deutungsmuster sind, deren Gemeinsamkeiten aus einer interlingualen Perspektive weitgehend kommunikativ-funktional bedingt sind. … Im Rahmen einer interkulturell angelegten Grammatik lassen sich ‚Kultur‘ und ‚kulturspezifisch‘ aus der Differenz der Verhältniszuordnung von signifiant und signifié in den einzelnen Sprachen ableiten“ (Traoré 2008: 73), also aus der Differenz des Verhältnisses zwischen der Form des Zeichens und der Idee, der Vorstellung von der Welt, die mit diesem Zeichen verbunden ist.

In einer interkulturell ausgerichteten Grammatik geht es nach Traoré „in erster Linie darum, sich im Fremdsprachenlernprozess, im vorliegenden Fall also im Erwerbsprozess des Deutschen als Fremdsprache, der Art und Weise bewusst zu werden, wie grammatische Mittel eigenkulturell kommunikativ-funktional geprägt sind und das trotz dieser unterschiedlichen Sichtweisen ermöglicht werden soll, das Wechselverhältnis von Fremdem und Eigenem in der Sprache zu verstehen … und damit eine Vertrautheit als Grundlage für Verstehens- und Verständigungsprozesse zu initiieren“ (Traoré 2008: 74).

Er geht dabei von einem erweiterten Grammatikbegriff aus, der „über die Morphologie und die Syntax hinaus in einer textuellen Umgebung nicht nur die Zuordnung von Form, Bedeutung und Funktion betont, sondern auch Sprachhandlungsaspekte integriert“ (Traoré 2008: 76).

Als Forschungsfelder einer interkulturellen Grammatik sieht Traoré zum Beispiel
die kulturspezifische Ausprägung von Sprachhandlungen wie

  • Komplimente machen
  • sich bedanken
  • sich entschuldigen
  • begrüßen
  • sich verabschieden
  • einladen
  • absagen
  • widersprechen
  • bejahen oder verneinen.

Es handelt sich also kommunikative Kategorien, die in jeder Kultur vorhanden sind, aber kulturspezifisch gewichtet und gedeutet werden (vgl. Traoré 2008: 77 – 78).

Neben Verbalisierungsmitteln  sind auch nichtsprachliche Aspekte berücksichtigen, z.B. beim Begrüßen (vgl. Traoré 2008: 79).

  • Wie nahe kommt man sich ?
  • Welche körperlichen Kontakte gibt es?
  • Küssen sich Männer, umarmen sie sich sich?
  • Wie zeigen sich Rollenverhältnisse?
  • Wie lange dauert das Begrüßen? usw.

Auch die Untersuchung Grammatische Kategorien im weiteren Sinne des Begriffs ist Forschungsfeld einer Interkulturellen Grammatik. Dazu gehören zum Beispiel

  • Aspekte der Temporalität, Kausalität und Modalität
  • inner- und außersprachliche Verweissysteme (Referenz und Deixis)
  • Textsortengliederungen (vgl. Traoré 2008:80).

Traoré wendet sich auch gegen die Auffassung, dass grammatische Kategorien universale Kategorien wären und zeigt dies am Beispiel von Fallstudien zu den Verbal-Kategorien Tempus und Genus verbi im Deutschen und Thailändischen (vgl. Traoré 2008: 77 und 95 – 147).

Er kommt in der ersten Fallstudie zu dem Schluss, dass Tempus und Zeitbedeutung sprachkulturspezifische Sichtweisen sind. Mit den jeweiligen temporalen Formen deuten die beiden Sprachen  Deutsch und Thailändisch die drei universalen Zeitstufen Gegenwart – Vergangenheit – Zukunft unterschiedlich (vgl. Traoré 2008: 125 – 126), auch auf der Funktionsebene zeigen die beiden Sprachen große Unterschiede (vgl. Traoré 2008: 126).

Traoré fasst die Ergebnisse der ersten Fallstudie zur Verbal-Kategorie Tempus so zusammen: „Das Deutsche trennt deutlich zwischen Tempus und Zeit. Das verbale Ereignis wird zuerst temporal strukturiert, dann im Kontext zeitstufenspezifisch interpretiert.  Darüber hinaus präsentiert es systembedingt ein tempuslineares Konzept, dessen Wahrnehmung im thailändischen hinsichtlich der objektiv-realen Zeit mit dem Vertrauten in Konflikt kommen dürfte, denn auf der textuellen Ebene ist in der Thai-Sprache die objektiv-reale Zeit wichtiger als die Tempusmarker. Das Verb ruht im ewigen Sein. Die lexikalischen Mittel geben den Vorgängen ihren Sinn. Wenn man dies in Beziehung zu der Zeitauffassung in der Thai-Kultur (vgl. Abschn. 5.3.2.3.1.1.) setzt, verwundert es nicht, dass dadurch im Lernprozess des Deutschen als Fremdsprache aus der Sicht eines Deutsch lernenden Thailänders ein Konflikt als Resultat der Andersartigkeit von Fremd- und Selbstwahrnehmung entsteht …“ (Traoré 2008: 126)

In der in Thailand vorherrschenden buddhistischen Schule wird Zeit im Unterschied zu der in Europa vorherrschenden linearen Zeitauffassung (unbegrenzte Vergangenheit, flüchtige Gegenwart, unendliche Zukunft)  als ein in sich kreisendes Phänomen aufgefasst und damit kommt der Gegenwart eine besondere Rolle zu. „Die Gegenwart ist ist wichtiger als die anderen Zeitstufen, einmal weil die Vergangenheit (das Damals) nicht mehr der Augenblick (das Jetzt) ist, in dem ich Sprecher – sie ist also schon vorbei -, und zum anderen, weil man sich nicht der Gegenwart, dem Jetzt, widmen kann, wenn man sich der kommenden Zeit zuwendet. Also: Die Gegenwart ist wichtig ; Vergangenheit und Zukunft sind ephemer“ (Traoré 2008: 99 – 100). So beeinflusst unser Denken über die Zeit die Art und Weise, wie wir über Zeit sprechen – oder unser Denken über die Zeit folgt den Möglichkeiten unserer Sprache (vgl. Traoré 2008: 126).

Lutz Götze formuliert dies so: „Das Thailändische Beispiel verdeutlicht unseren Standpunkt, dass Sprachen Weltansichten ausdrücken und zugleich zu deren Entwicklung und Ausprägung einen wesentlichen Teil beitragen“ (Götze 2009a: 5).

Die zweite Fallstudie zeigt, dass beide Sprachen Aktiv und Passiv formal-strukturell differenzieren, aber im Vergleich zum Deutschen ist die Verwendung der Passiv-Marker im Thai auf die transitiven Verben begrenzt, die auch negative Verhältnisse zum Ausdruck bringen. Dadurch wird der Funktionsmodus des Passivs eingeschränkt (vgl. Traoré 2008: 146).

Traoré fasst die Ergebnisse zweiten Fallstudie zur Verbal-Kategorie Genus verbi so zusammen: „Wir haben es hier also mit einem sprachlichen Phänomen zu tun, dem in der jeweiligen Sprachgemeinschaft eine eigenkulturelle kommunikative Relevanz zugesprochen wird. Während im Deutschen das Passiv zu den Regeln des Sprachgebrauchs  mit den damit verbundenen vielseitigen Funktionen gehört, hat im Thailändischen diese Struktur außer ihrer formal-strukturellen Eigenschaft, die sich darin äußert, dass doon und thuuk eine feste Position m Satz haben, eine recht geringe Mitteilungsperspektive. Dies dürfte dazu führen, dass aus der Sicht eines thailändischen Deutschlernenden diese Struktur zwar formal-strukturell durchaus wahrgenommen wird, aber kommunikationsfunktional deutlich mehr leistet als das vertraute strukturierte Vorwissen in der eigenen Sprache“ (Traoré 2008: 146).

Als Aufgabe einer interkulturellen Grammatik sieht Traoré, „bei der Tempus-Darstellung über den formal-strukturellen Rahmen hinauszugehen, um kulturspezifische Deutungsmöglichkeiten der grammatischen Zeit auf den drei universalen Zeitstufen in die Analyse mit einzubeziehen“ (Traoré 2008: 127). Beim Genus verbi soll der sprachkulturspezifische Kontext kontrastiv beleuchtet werden (Traoré 2008: 146 – 147).

Als vorläufige Definition einer interkulturellen Grammatik schlägt Traoré vor:

„Interkulturelle Grammatik ist eine deskriptiv vergleichende Grammatik, die im Hinblick auf Fremdsprachenlernen und unter dem Aspekt des Verstehens und der Verständigung in der Fremd- und Selbstwahrnehmung die grammatischen Phänomene der fremden und der eigenen Sprache in ihrer jeweiligen eigenkulturellen Erscheinungsweise reflektiert. Gegenstand der Analyse sind nicht nur die Sprachhandlungen und ihre kulturspezifische Gewichtung, sondern auch die grammatischen Kategorien, ihre Form, ihre Bedeutung und ihre kommunikativ-funktionale Potenz in je kulturspezifischer Weise. Daraus können sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede hervorgehen.

Es geht also dabei um eine Grammatik, die die Kulturbedingtheit grammatischer Erscheinungen und die davon abhängigen kommunikativen Funktionen in den Mittelpunkt des Lernprozesses rückt“ (Traoré 2008: 149).


Im Jahr 2009 folgte der Sammelband „Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden“ (Götze, Mueller-Liu, Traoré: 2009).

In seinem Beitrag „Zeit- und Raumbewusstsein in den Kulturen“ beschreibt Lutz Götze Probleme der Darstellung der Zeit in der deutschen Grammatik und kulturelle Unterschiede beim Verständnis von Raum und Zeit in Thailand, Australien und Brasilien (Götze 2009a). Er kommt dabei zu der Erkenntnis, dass dem Problem von Raum und Zeit nicht allein mit sprachwissenschaftlichen Erklärungen beizukommen ist. Sprachphilosophische, anthropologische, geschichtswissenschaftliche und naturwissenschaftliche  Reflexionen müssten hinzukommen (Götze 2009a: 7). Zusammenhänge von Sprache und Kultur müssten  also offenbar in interdisziplinärer Forschungsperspektive untersucht werden.

Salifou Traoré geht in seinem Beitrag „Zur Grundlegung einer Kulturkontrastiven Grammatik“ ähnlich wie in Traoré 2008 der Frage nach, in welchem Rahmen sich eine Kulturkontrastive Grammatik konzipieren lässt (Traoré 2009). Als sprachtheoretisches Fundament arbeitet er zunächst die Sprachauffassung von Wilhelm von Humboldt heraus, die er als sehr komplex und nur in dessen Gesamtwerk interpretierbar bezeichnet (vgl. Traoré 2009: 18).

Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen zwei zentrale Begriffe der Sprachauffassung von Wilhelm von Humboldt, die Begriffe der Sprachtypen und der Weltansicht. Mit Sprachtypen, so Traoré, verweist Humboldt auf die Individualität der Sprachen: „Jede Sprache als Erzeugnis der Menschheit bringt einen Inhalt zum Ausdruck, der die Wirklichkeit ihrer Kulturgemeinschaft widerspiegelt. Trotz dieses Unterschieds besitzen die einzelnen Sprachen die Fähigkeit, prinzipiell alles auszudrücken“ Traoré 2009: 21). Aufgrund der Verschiedenheit der Sprachen legt jede Sprache eine besondere „Weltansicht“ nahe, also eine spezifische Sichtweise, in der sich die außersprachliche Realität ihrer Kulturgemeinschaft äußert (Traoré 2009: 22). Aus der Verschiedenheit der Sprachen lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten:

  • „Da Sprache und Denken miteinander verbunden sind, legt jede Sprache eine andere Wirklichkeitserfahrung nahe.
  • Die Verschiedenheit der Sprachen liegt nicht in den Lauten (Schällen) und Schriftzeichen (Zeichen), sondern vielmehr in der Weltsicht jeder Sprache“ (Traoré 2009: 26).

Als zweites sprachtheoretisches Fundament sieht Traoré die Auffassung des Zusammenhangs von Sprache und Denken bei Benjamin Lee Whorf. Zusammenfassend stellt er unter anderem fest: „Whorf plädiert für ein sprachliches Relativitätsprinzip, das sich in den Begriffssystemen einer Sprache äußert, die wiederum unsere Art und Weise, die außersprachliche Wirklichkeit zu strukturieren, widerspiegeln“ (Traoré 2009: 34).

Wie schon in Traoré 2008 fasst er Kulturen hier als Deutungsgemeinschaften auf, „in denen vor dem Hintergrund gemeinsamer Wissensbestände die Welt in nahezu gleicher Art und Weise gedeutet wird. … Diese Vorstellung von Kultur ist insofern wichtig als sie ein geteiltes, jedoch Abweichungen zulassendes Wissen, das der Interaktion zwischen Mitgliedern einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft zugrunde liegt, zum Ausdruck bringt. Dieses geteilte Wissen äußert sich in Nationalsprachen als Referenzobjekt“ (Traoré 2009: 36 – 37).

Für sein erweitertes Grammatikverständnis sieht er drei grundlegende Beschreibungskategorien , nämlich Form, Bedeutung und Funktion, als wesentlich an: „Die Unterscheidung von Form, Bedeutung und Funktion ist für die theoretische Konzeption einer kulturkontrastiv ausgerichteten Grammatik entscheidend“ (Traoré 2009: 41). Er charakterisiert diese drei Ebenen im einzelnen genauer  (Traoré 2009: 42 – 47) und zeigt am Beispiel des Genus verbi im Deutschen und Thailändischen, wie diese drei Kategorien als „Eckpfeiler einer kulturkontrastiv konzipierten Grammatik“ funktionieren (Traoré 2009: 47 – 69).

Im Beitrag „Kultur, Sprache und Wirklichkeit – Grundlagen der Kulturkontrastivität“  von Patricia Mueller-Liu werden ausführlich theoretische Grundlagen einer kulturkontrastiven Grammatik erörtert. Mueller-Liu setzt sich zunächst mit der Entstehungsgeschichte des Forschungsansatzes Sprache und Kultur auseinander. Die Wurzeln der aktuellen Diskussion sieht sie in der linguistischen Relativitätstheorie, in den linguistischen Untersuchungen Franz Boas‘, Edward Sapirs und Benjamin Lee Whorfs, deren Gedanken zu Sprache und Weltsicht sich auf Wilhelm von Humboldt zurückführen lassen (Mueller-Liu 2009a: 88 und 90). Sie fasst zusammen:

„Nach Whorfs Auslegung des Relativitätsprinzips geht die kognitiv-mentale Prägung der Sprache so weit, dass mit unserer Weltsicht nicht zu vereinbarende, von den Strukturen unserer Sprache nicht unterstütze Vorstellungen, Konzepte und Prozesse nicht bzw. nur unter größten Schwierigkeiten nachzuvollziehen oder zu erlernen sind. … Diese von Whorf postulierte kausale Verbindung zwischen Sprache und Denken wird als sprachlicher Determinismus bezeichnet“ (Mueller-Liu 2009a: 93).

Diese Auffassung der Präkonditionierung des Denkens wurde stark kritisiert. Es entwickelte sich das Forschungsparadigma „Sprache und Kultur“ : Anthropologische Linguisten und Psycholinguisten bemühten sich in den 50er Jahren, möglichst viel empirisches Material zur Verifizierung oder Falsifizierung  der Auffassungen von Sapir und Whorf zusammenzutragen, stießen jedoch bald an ihre Grenzen. Jedoch ließ sich in dieser Forschungsphase die gemäßigte Version der linguistischen Relativitätstheorie nach Sapir validieren: Unterschiedliche sprachliche Kategorien deuten zwar auf die Existenz unterschiedlicher kognitiver Kategorien hin, menschliches Denken ist jedoch nicht so von der Sprache geprägt, dass fremdkulturelles Denken unmöglich ist (Mueller-Liu 2009a: 94 – 95).

In einer zweiten Forschungshase in den 60er und 70er Jahren befassten sich kognitive Anthropologen und Kulturanthropologen mit dem Paradigma „Sprache und Kultur“. Zunächst interessierte sich die frühe kognitive Anthropologie für kulturelle  und sprachliche Unterschiede. Die Ergebnisse „wiesen deutlich in die Richtung des sprachlichen Relativismus“ (Mueller-Liu 2009a: 99). In den 70er Jahren verlagerte sich das Forschungsinteresse von relativistischen Untersuchungen zur Suche nach universalen Prinzipien die für alle Sprachen und Kulturen gültig sein sollten, was im Beitrag am Beispiel der Erforschung der Farbsysteme gezeigt wird (vgl. Mueller-Liu 2009a: 99 – 102).

Die zweite Forschungshase zeigte trotz einiger Schwachpunkte viele neue Verbindungen zwischen Sprache und Kultur im Sinne von Weltsicht. „Die in den Sprachen gemachten Unterscheidungen bzgl. der untersuchten Lebens- und Erfahrungsbereiche korrelierten deutlich mit den in Kulturen vorliegenden Kategorisierungen bzgl. der natürlichen und sozialen Umwelt“ (Mueller-Liu 2009a: 102).

Als dritte Forschungsphase beschreibt Mueller-Liu die Wissenschaftsrichtung „Ethnographie der Kommunikation“,  bei der in den 70er und 80er Jahren das Paradigma Sprache und Kultur im Zentrum des Forschungsinteresses stand. Besonders interessierten gesellschaftlich-sozial und kulturell bedingte Funktionen von Sprache in der Alltagskommunikation (vgl. Mueller-Liu 2009a: 103 – 109).

Als vierten Forschungsbereich erörtert Mueller-Liu Positionen der Vergleichenden Kulturwissenschaft (Geert Hofstede) und der Kulturanthropologie (Clifford Geertz) der 80er und 90er Jahre . Diese beiden Ansätze gehen von unterschiedlichen Perspektiven an die Untersuchung kultureller Systeme heran.

Die Kulturanthropologie geht von einer emischen Beschreibung aus Sicht eines Teilnehmers der untersuchten Kultur aus, wobei eine Innenperspektive geschaffen wird, die es ermöglicht, Sicht- , Denk- und Handlungsweisen der Menschen einer bestimmten Gruppe einzuordnen und nachzuvollziehen (vgl. Mueller-Liu 2009a: 109 – 110).  Auch die Kulturdefinition der Diskursiven Landeskunde – vgl. meinen Blogbeitrag Sprache und Kultur (1) – , die von Clifford Geertz‘ Kulturdefinition ausgeht, ist einem solchen emischen Ansatz zuzuordnen und ermöglicht über die Analyse kultureller Muster in Diskursen eine solche Innenperspektive.

Die Vergleichende Kulturwissenschaft vertritt eine etische Herangehensweise, also auf die eines Beobachters von außen. Sie bezieht sich auf ein Referenzmodell, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, universell verwendbar und neutral zu sein. Am bekanntesten ist das Kulturdimensionen-Modell von Geert Hofstede, das er unter anderem in seinem Aufsatz „Dimensionalizing Cultures: The Hofstede Model in Context“ (Hofstede 2011) und auf seiner Homepage ausführlich beschreibt. Mueller-Liu schätzt ein, dass sich dieses Kulturdimensionen-Modell durchaus dazu eignet, kulturell bedingte Verhaltensmuster vergleichend zu beschreiben, jedoch auch mit einigen Problemen behaftet ist, die sie ausführlich erörtert. Doch auch den Ansatz von Clifford Geertz sieht sie kritisch im Hinblick auf ein fehlendes klares Konzept, welche Themen, Ideen oder Konzepte bei der Beschreibung einer Kultur im Vordergrund stehen sollten (vgl. Mueller-Liu 2009a: 109 – 114).

Da beide Zugangsweisen – die emische wie die etische –  wichtige Erkenntnisse zu dem jeweiligen Kultursystem liefern, scheint mir „Kultur“ als komplexes lebensweltliches Phänomen am ehesten fassbar zu sein, wenn  man beide Ansätze kombinieren würde.

Im weiteren geht Mueller-Liu der Frage nach wie Sprache, Kultur und Wirklichkeit miteinander verknüpft sind. Dazu verdichtet sie zunächst aus fünf als Diskussionsgrundlage ausgewählten Kulturbegriffen „Kultur“ als ein abstraktes Gerüst von Vorstellungen, Werten und Normen, das unser Bild von der uns umgebenden „Wirklichkeit“ prägt und das sich auf zweierlei konkrete Weise äußert: in der Art und Weise, wie das Leben und der Alltag bewältigt wird und „in der Art und Weise, wie dabei von der Sprache Gebrauch gemacht wird“ (Mueller-Liu 2009a: 120 – 123).

Am Beispiel verschiedener Dimensionen des Raumes und unterschiedlicher Auffassungen von Verhältnis des Menschen zu seinem ihn umgebendem Raum wird dann die Bewältigung des Alltagslebens  in verschiedenen Kulturen näher betrachtet (vgl. Mueller-Liu 2009a: 123 – 131).

Im Anschluss daran diskutiert Mueller-Liu, wie die „unter dem Begriff des Wirklichkeitsbilds zusammengefassten Vorstellungen, Konzepte und Normen auch in unserer Sprache zum Ausdruck kommen“ (Mueller-Liu 2009a: 131). Dabei unterscheide man heute zwei Verbindungsebenen von Sprache und Kultur:

  1. Ebene der Sprachstrukturen (Lexik und Grammatik)
  2. Ebene des Sprachgebrauchs „mit den von interaktiven, situativen, sozialen und kulturellen Faktoren bedingten Verwendungsweisen sprachlicher Formen“ (Mueller-Liu 2009a: 131).

Beide Ebenen werden im folgenden von ihr am Beispiel verschiedener Sprachen und in Auswertung konkreter Untersuchungen näher beschrieben, um die Vorgehensweise einer kulturkontrastiven Grammatik zu zeigen (vgl. Mueller-Liu 2009a: 131 – 148). In einem weiteren Beitrag des Sammelbandes „Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden“ demonstriert Mueller-Liu am Beispiel der sprachlichen Umsetzung der Konzepte von Zeit, Distanz und Nähe am Beispiel des Deutschen und Chinesischen diese Vorgehensweise eingehender (vgl. vgl. Mueller-Liu 2009b).

Mit Zeitkonzepten in China ab dem 6. vorchristlichen Jahrhundert im Vergleich zu Zeitvorstellungen des modernen Europa befasst sich auch ein weiterer Beitrag von Lutz Götze, der in diesem Zusammenhang vor allem die Konzepte der Linearität, Zirkularität und des Kalenders diskutiert (Götze 2009b).

Es ist hier nicht möglich, alle anderen Beiträge des Sammelbandes „Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden“ zu referieren, deshalb verweise ich auf das Inhaltsverzeichnis, dem weitere Schwerpunkten entnommen werden können:

inhaltsverzeichnis_1

inhaltsverzeichnis_2


Dass auch das Problem der  Verwendung von „du“ und „Sie“ im Deutschen nicht nur unter der grammatischen Fragestellung der Personalpronomen, sondern auch unter kultureller Perspektive betrachtet werden kann, beschreibt Greg Nees in seinem Buch „Germany. Unraveling an Enigma“ (Nees 2000):

Die Verwendung von „du“ und „Sie“ beeinflusse sehr stark die Art, wie Deutsche kommunizieren und er meint: “ …this distincion is an accurate mirror of German culture as well as a major parameter of the German communication style“ (Nees 2000: 65).

Ausgehend von einer Idee von Kurt Lewin („Some Social-Psychological Differences between the United States and Germany“, Character and Personality 4, 1936: 265-93) verwendet Greg Nees konzentrische Kreise, um prototypische Persönlichkeiten in den USA und Deutschland in verschiedenen Persönlichkeitsschichten (von „unbewußt“ über „sehr persönlich“ bis zu „sehr öffentlich“) zu visualisieren  (vgl. Nees 2000: 65 – 68):

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In Deutschland und den USA gebe es, so schreibt Nees, signifikante Unterschiede zwischen diesen Schichten der Privatheit und Offenheit gegenüber anderen Menschen – vgl. die folgenden  Abbildungen:

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Im USA-Modell ( Figure 2) gibt es keine so klare Trennungslinie (sehr nah an der Oberfläche der Persönlichkeit) wie im deutschen Modell (Figure 3), die zwischen den Bereichen trennt, die ein Deutscher für privat und für öffentlich hält und in denen er „du“ oder „Sie“ verwendet. Diese Trennung von privat und öffentlich sieht Greg Nees auch in anderen Bereichen als typisch an, er schreibt von einer „strong tendency toward compartmentalization in all areas of their lives“ (Nees 2000: 48) und sieht Beispiele dafür in der Raumaufteilung (klare Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen in Städten) oder im Zeitverständnis (Sonntag – Alltag; Feierabend).

Es gibt im Englischen nur ein Personalpronomen und die Bereiche „öffentlich“ und „privat“ überlappen seiner Meinung nach in den USA mehr. Demzufolge sind in der Mehrheit der Interaktionen Offenheit und Freundlichkeit (small talk) zu finden. Die meisten deutschen Interaktionen in der „Sie-Interaktion“ mit Menschen in der Öffentlichkeit außerhalb der Familie oder des Freundeskreises werden nicht über die äußeren Bereiche der Persönlichkeit hinausgehen („Sie“) und bleiben formal und reserviert.

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Für die Personen im „Du“-Bereich (engere Beziehungen; Familie, Freunde …) sind jedoch die Bereiche der Persönlichkeit, die miteinander interagieren, viel größer als im amerikanischen Modell (vgl. Figure 4).

Nees spricht hier von Du-Interaktion und Sie-Interaktion als unterschiedlichen Kommunikationsstilen. Das bedeutet, dass man sich auch beim Gebrauch von „du“ durchaus in der „Sie-Interaktion“ befinden kann, denn „du“ wird nicht nur zwischen Menschen verwendet, die  sich sehr gut kennen, sondern auch dann, wenn man die andere Person als Mitglied derselben Gruppe wahrnimmt. So duzen sich normalerweise Studierende, ohne dadurch immer auch die Du-Interaktion entsprechend Figure 4 zu verwenden.

Nees beschreibt diesen Wechsel zwischen Sie-Interaktion und Du-Interaktion folgendermaßen: „To be able to read between the lines of German communication, Americans must understand that the use of du or Sie is not simple a change of verbs and pronouns but rather a major change in modality. It is as noticeable as the distinction between the major and minor scales played on a piano. By making minimal grammatical changes, speakers introduce a whole different mood and modality“ (Nees 2000: 70).

Eine amerikanische Praktikantin schrieb 2001 über dieses Problem:

„Der größte Unterschied, den ich beobachtet habe, ist mit dem „Sie-du“-Verhältnis. Am Anfang war es immer schwer daran zu denken, „Sie“ statt „du“ zu sagen. …
Langsam werde ich gewöhnt, „Sie“ in der Arbeit zu benutzen. Ich habe auch bemerkt, dass es mit „Sie“ ein anderes Verhältnis gibt. Die Leute haben mich nicht so viel über persönliche Sachen gefragt und alles war mehr formal. Aber je länger ich hier war, desto weniger formal haben sich die Verhältnisse gezeigt.
In der zweiten Woche von meinem zweiten Monat … haben die zwei Männer, die mit mir im Büro arbeiten, mich gefragt, ob ich mit der „English Group“ (einige Mitarbeiter, die ein bisschen Englisch gelernt haben) raus gehen wollte … Ich hatte den Eindruck, als ob es für meine deutschen Kollegen ein größeres Ding wäre, mich einzuladen, als es zu Hause in den USA sein würde.
Ich bin gegangen und habe viel Spaß gehabt. In der nächsten Woche haben die zwei Männer mir gesagt, dass ich sie duzen soll und auch ihre Vornamen benutzen. Es war seltsam am Anfang … aber jetzt ist es normal. Die ganze Geschichte ist für mich ein bisschen komisch, weil es einfacher sein würde, nur ein „you“ zu haben. Aber ich verstehe jetzt besser, das es ein bestimmtes Verhältnis zwischen Menschen widerspiegelt“ (Jeniffer, Praktikantin 2001).

Fortsetzung folgt

Mit diesem Beispiel des Einflusses grammatischer Kategorien auf die Art und Weise, wie wir kommunizieren, sind wir beim dritten Zugang zu Kultur über Sprache, dem Zugang über Kommunikationsstile, auf den in einem dritten Teil zum Thema  „Sprache und Kultur“ eingegangen wird.


Quellen Teil 2

Götze, Lutz (2009a): Zeit- und Raumbewusstsein in den Kulturen. – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 3 – 14.

Götze, Lutz (2009b): Über die Gegenwart – europäische und chinesische Konzepte eines „viel merkwürdigen Wortes“ – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 165 – 182.

Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009.

Hofstede, Geert (2011). Dimensionalizing Cultures: The Hofstede Model in Context. Online Readings in Psychology and Culture, 2(1). – Online am 02.01.2018 unter http://dx.doi.org/10.9707/2307-0919.1014

Mueller-Liu, Patricia (2009a): Kultur, Sprache und Wirklichkeit – Grundlagen der Kulturkontrastivität. – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 85 – 163.

Mueller-Liu, Patricia (2009b): Konzepte von Zeit, Distanz und Nähe – Kulturkontrastive Grammatik am Beispiel des Deutschen und Chinesischen. – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 253 – 307.

Nees, Greg (2000): Germany. Unraveling an Enigma. Intercultural Press: Yarmouth, Maine USA.

Traoré, Salifou (2008): Interkulturelle Grammatik. Konzeptionelle Überlegungen zu einer Grammatik aus eigener und fremder Perspektive im Deutschen als Fremdsprache. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2008 (Im Medium fremder Sprachen und Kulturen, Band 12).

Traoré, Salifou (2009): Zur Grundlegung einer Kulturkontrastiven Grammatik. – In: Götze, Lutz; Mueller-Liu, Patricia; Traoré, Salifou (Herausgeber): Kulturkontrastive Grammatik – Konzepte und Methoden. – Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 15 – 83.

 

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